"Bio" und "Öko", gehören heute zum Alltag, die Fitness- und Wellness-Industrie boomt, Naturheilkunde, Veganismus und Waldorfpädagogik sind längst keine Nischen mehr, Reformhäuser gibt es allerorten, die Marken Demeter und Eden sind etabliert. Doch wann und warum begann eigentlich die Suche nach einer einfachen, gesunden und "naturgemäßen" Lebensweise?
Ende des 19. Jahrhunderts entstanden in Deutschland vor dem Hintergrund der rasanten Industrialisierung und Urbanisierung unterschiedliche lebensreformerische Ideen. Sie alle standen den Folgen der ungebremsten Technisierung und Modernisierung skeptisch gegenüber und waren auf der Suche nach einer alternativen Lebensweise. Dabei sollten alle Aspekte des Alltags – Wohnen, Arbeiten, Essen, Kleiden, Heilen, Bewegen, Erziehen, Wirtschaften und Zusammenleben – im Sinne von Natürlichkeit, Gesundheit, Schönheit und Einfachheit neu ausgerichtet werden.
Die Dichte und Vielfalt der Lebensreformbewegung in Brandenburg war geprägt von der Metropole Berlin. Dem Ruf "Hinaus aus der Stadt" und "Los von Berlin" folgend entstand im Umland ein ganzes Geflecht von Landkommunen, Nacktkolonien, Reformschulen, Kunsthandwerkergenossenschaften, Künstlergemeinschaften, Gartenstädten und ökologisch wirtschaftenden Höfen. Die Ideologien ihrer Protagonisten reichten von völkischen bis anarcho-sozialistischen Gruppierungen, ihre Lebensweise von komplexen Gemeinwesen bis zu eremitischen Wanderpredigern.
Die Ausstellung stellt die Lebensreformbewegung in Brandenburg mit ihren zentralen Strömungen Naturheilkunde, Vegetarismus, Nacktkultur und Siedlungsbewegung vor. Zeitlich reicht der Bogen vom Jahr 1890, in dem der Friedrichshagener Dichterkreis entstand, über die Blütezeit der Siedlungen, Vereine und Einzelinitiativen in den 1920er und 30er Jahren bis zur Reformschule Adolf Reichweins in Tiefensee 1933 bis 1939. Unter der Herrschaft des Nationalsozialismus wurde auch die Lebensreformszene gleichgeschaltet und ihr damit der Lebensnerv genommen.
Die Ausstellung verfolgt die Spuren der Lebensreform in Brandenburg nach einem topografischen Prinzip. In 15 Stationen werden Orte und Menschen vorgestellt, die – teils vergessen, teils noch heute bekannt – alternativen Lebensweisen auf unterschiedlichste Weise Raum gaben:
Die Obstbaubaukolonie Eden bei Oranienburg, 1892 gegründet als "Vegetarische Obstbausiedlung Eden", verband Genossenschaftssiedlung, ökologischen Landbau, Vegetarismus, Reformpädagogik, Brotreform sowie Freiland- und Freigeldwirtschaft. Sie ist die einzige noch bestehende lebensreformerische Siedlungsgenossenschaft in Deutschland.
In den Nacktkultur-Vereinen am Motzener See trafen sich naturheilkundlich inspirierte FKK-Aktivitäten mit Ideen der Arbeiterbildung, Sexualaufklärung, Ernährung, Gymnastik und der neuen Körperästhetik in der Freiland-Aktfotografie.
Der Künstler Fidus (Hugo Höppener, 1868–1948 ) lebte ab 1907 in seinem selbst entworfenen "Fidushaus" in Woltersdorf bei Berlin. Er war als Illustrator und Gebrauchsgrafiker in allen Bereichen der Lebensreform präsent und bot mit seiner emphatischen Bildsprache eine übergreifende ästhetische Identifikation. Nicht von ungefähr ist sein "Lichtgebet" zur Ikone der Lebensreform geworden.
Die Kunsthandwerker-Genossenschaft Gildenhall bei Neuruppin (1921–1929) verband beispielhaft für die Lebensreformbewegung Wohnen, Arbeiten, Genossenschafts- und Gartenstadtbewegung und produzierte – dem Werkbund und Bauhaus verpflichtet – in eigener Töpferei, Handweberei, Zimmerei, Tischlerei und Schmiede hochwertige Gebrauchsgüter.
Der Friedrichshagener Dichterkreis entstand ab 1890 um Wilhelm Bölsche, Bruno Wille und die Brüder Hart und wurde schnell zum Anziehungspunkt für deutsche und skandinavische Künstler der literarischen Moderne. In Neu-Rahnsdorf bei Friedrichshagen gab Adolf Brand (1874–1945) seine Zeitschrift "Der Eigene" heraus, die als das erste Schwulenmagazin der Welt gilt.
Der Reformgarten von Karl Foerster (1874–1970) in Potsdam-Bornim ist ein Beispiel für die Gartenkunst im Sinne der lebensreformerischen Naturnähe. Für den Garten als Lebensraum, der die gesundheitsfördernde, gar therapeutische Berührung mit Sonne, Luft, Wasser und Erde bietet, fand Karl Foerster mit dem Staudengarten den "Bornimer Stil".
Der "Garten der Schönheit" an seiner Villa in Werder diente Karl Vanselow (1876–1959), einem schillernden Akteur der frühen Nacktkultur- und Sexualreformbewegung, auch als Kulisse für seine Freilichtaktaufnahmen, die er in der von ihm herausgegebenen und redigierten Zeitschrift "Die Schönheit" veröffentlichte.
In der Siedlung Heimland bei Rheinsberg (1909–1926), einem ehemaligen Gut mit umgebenden Pachtparzellen, verbanden ihre Begründer Ideen der Lebensreform mit Ideen der völkischen Bewegung. Wirtschaftlich letztlich nicht erfolgreich, war die Genossenschaft nicht lange lebensfähig und wurde schließlich liquidiert.
Die Entstehung der Marke Demeter ist verbunden mit Bad Saarow und dem Demeter-Hof Marienhöhe bei Bad Saarow. Der Hof wurde 1928 von Erhard Bartsch (1895–1960), einem Pionier der biologisch-dynamischen Landwirtschaft, als Versuchsgut im Sinne der Anthroposophie Rudolf Steiners aufgebaut. Heute ist die "Hofgemeinschaft Marienhöhe" der älteste biologisch-dynamisch wirtschaftende (Demeter) Hof in Deutschland.
Die anarchischen Bohème-Siedlungen im Roten Luch / Grünhorst bei Rehfelde (1920–1936) waren ein Experimentierfeld alternativer Gemeinschaftsformen und zeitweiliger Lebensmittelpunkt einiger Wanderpropheten. Hier siedelte die Goldberg-Kommune, später der Anarcho-Syndikalist Artur Streiter, zuletzt lebten hier kurzzeitig Gusto Gräser, der Mitbegründer der lebensreformerischen Kolonie Monte Verità in Ascona, und der Christ-Revolutionär und Maler Max Schulze-Sölde.
Der Chirurg und Berliner Universitätsprofessor August Bier (1861–1949) praktizierte erfolgreich mit naturheilkundlichen Methoden, setzte sich für eine Neubewertung der Homöopathie in der Medizin ein und machte sich auch als Waldreformer und Naturschützer auf seinem Gut in Sauen einen Namen.
Der Publizist Reinhold Gerling (1863–1930) in Oranienburg hatte als Herausgeber der Zeitschrift "Der Naturarzt" und als Autor zahlreicher Leitfäden vor allem auf dem Gebiet der Naturheilbewegung ("Körper- und Schönheitspflege", "Der Geschlechtsverkehr der Ledigen", "Hypnotische Unterrichtsbriefe") einen festen Platz in der boomenden zeitgenössischen Ratgeberliteratur.
Gustav Nagel vom Arendsee (1874–1952), der selbsternannte "Wanderprediger und Tempelwächter vom Arendsee", provozierte die Bürgerlichkeit als friedlicher Wanderprophet und ab 1910 in Arendsee mit seinem Leben im selbst geschaffenen Paradiesgarten. Der Verkauf seiner Postkarten und Schriften und die zahlenden Besucher seines Gartens machten Nagel bald zu einem der größten Steuerzahler im Ort, dennoch stets als "chronisch verrückt" beargwöhnt.
Die Wandervogelbewegung die Anfang des 20. Jahrhundert in und um Berlin entstand, war mit ihren Intentionen der Lebensreformbewegung sehr nahe und avancierte, obwohl immer sehr heterogen, schnell zu der Jugendbewegung schlechthin. Ihre hohe Zeit hatten die Wandervögel wie auch die bündische Jugend und andere Jugendorganisationen in der Weimarer Republik, bevor sie alle im Nationalsozialismus gleichgeschaltet wurden.
Die Reformschule Tiefensee (1933–1939) ist das Verdienst von Adolf Reichwein. 1933 aus politischen Gründen als Professor an der Pädagogischen Akademie Halle (Saale) entlassen, war er bis 1939 Volksschullehrer in der Ein-Klassen-Schule in Tiefensee. Dort entwickelte er ein reformpädagogisches Unterrichtsmodell und führte den Film als Unterrichtsmittel ein. Reichwein war Mitglied des Kreisauer Kreises und wurde 1944 in Plötzensee hingerichtet.
Die Ausstellung zeigt Fotografien, Gemälde, Grafiken, zeitgenössische Bücher und Zeitschriften, Gebrauchsgegenstände, Kunsthandwerk und Filme. Sie illustrieren das vielfältige weltanschauliche, ästhetische und alltagspraktische Repertoire der Lebensreformbewegung in Brandenburg.
Kuratorin der Ausstellung ist Dr. Christiane Barz, Studium der Germanistik, Skandinavistik und Anglistik an der Freien Universität Berlin, Tätigkeit an verschiedenen Instituten der Freien Universität, Promotion zum Thema "Weltflucht und Lebensglaube. Aspekte der Dekadenz in der skandinavischen und deutschen Literatur der Moderne um 1900", einige Jahre wissenschaftliche Mitarbeiterin am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität Berlin, Literaturwissenschaftlerin und freie Kuratorin.
Zur Ausstellung ist ein Begleitbuch erhältlich:
Einfach. Natürlich. Leben.
Lebensreform in Brandenburg 1890–1939
Herausgegeben von Christiane Barz im Auftrag des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte
Verlag für Berlin-Brandenburg
184 Seiten, 130 Abbildungen, Klappenbroschur, Format: 22,0 x 27,0 cm
ISBN 978-3-945256-23-7
Preis im Buchhandel: 24,99 Euro | Preis im Museumsshop: 19 Euro
Ankündigung des Verlags (Download PDF, 700KB)
Flyer zur Ausstellung (Download PDF, 2MB)
Öffentliche Ausstellungsführungen mit der Kuratorin Dr. Christiane Barz
am 11. Juli, 15. August, 19. September, 10. Oktober, zusätzlich am 31. Oktober, 14. November
jeweils 15 Uhr
Eintritt: 7 Euro/erm. 5 Euro
Buchbare Führungen für Erwachsene
für Gruppen bis max. 20 Personen
Dauer: ca. 50 Minuten
Kosten: 50 Euro + erm. Eintritt/Person
Buchbare Führungen für Schulklassen
für Klassen bis max. 20 Personen
Dauer: ca. 50 Minuten
Kosten: 50 Euro, Eintritt frei
›› Führungsbuchung
Telefon: 0331/620 85-55 | Telefax: 0331/620 85-59 | E-Mail: fuehrungsbuero@hbpg.de
Ein umfangreiches Begleitprogramm bietet mit Führungen, Vorträgen, Lesungen, Podiumsdiskussionen, Filmen und einer URANIA-Busexkursion Gelegenheit, lebensreformerische Ideen näher kennen zu lernen und deren Aktualität im literarischen und kulturellen Diskurs der Gegenwart zu reflektieren.
Begleitprogramm (Download PDF, 81KB)
Bildungsangebote
Angebote für Lehrer und Lehrerinnen
Die Ausstellung präsentiert ein breites Spektrum von historischen Zeugnissen, die in ihrer Aktualität überraschen. Wir bieten Ihnen pädagogische Konzepte, mit denen Sie Ihren Ausstellungsbesuch vor- und nachbereiten können. Die Themen Kleidung, Ernährung und Freizeit orientieren sich an der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen. Die Ausstellung kann sie dazu anregen, ihre Alltagsgewohnheiten zu hinterfragen und neue Impulse zu gewinnen.
Die Materialien für Lehrerinnen und Lehrer finden Sie hier >>
›› Anmeldung von Schulklassen erforderlich
Telefon: 0331/620 85-55 | Telefax: 0331/620 85-59 | E-Mail: fuehrungsbuero@hbpg.de
Förderer
F. C. Flick Stiftung gegen Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Intoleranz
Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung
Märkische Stiftung für Gesundheits- und Kulturförderung
EDEN-STIFTUNG zur Förderung naturnaher Lebenshaltung und Gesundheitspflege
Runze & Casper Werbeagentur GmbH
Stiftung Preußische Seehandlung
Ursula Eckert-Stiftung
Verein "Freunde des HBPG e.V."
Medienpartner
rbb Fernsehen
Kulturland Brandenburg 2015 wird gefördert durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur sowie das Ministerium für Infrastruktur und Landesplanung des Landes Brandenburg. Mit freundlicher Unterstützung der brandenburgischen Sparkassen und der Investitionsbank des Landes Brandenburg.
Besucheradresse
Haus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte
Kutschstall, Am Neuen Markt 9 | 14467 Potsdam
Infotelefon: 0331/62085-50 | E-Mail: info@hbpg.de
facebook.com/HBPG.im.Kutschstall
Öffnungszeiten
Di–Do 10–17 Uhr
Fr–So und an Feiertagen 10–18 Uhr
Mo geschlossen
Eintritt
6 Euro/erm. 4 Euro
freitags 4 Euro